Der strukturelle Ausnahmezustand

Positionspapier von Initiative Familien zu den Bereichen Bildung, Psyche und Maßnahmen

Zweieinhalb Jahre Pandemie haben strukturelle Probleme deutlich verstärkt. Gerade Kinder und Jugendliche mussten viele Einschränkungen in Kauf nehmen, die Auswirkungen auf ihre psychische und physische Gesundheit haben. Obwohl negative Auswirkungen restriktiver Maßnahmen auf die Entwicklung von Kindern und Jugendlichen mittlerweile gut belegt sind, gibt es zu wenige Konzepte, um Kinder, Jugendliche und Familien nun gezielt zu unterstützen. Ansätze der Wiedergutmachung sowie Strategien, um Verbesserungspotentiale für eine weitere Krise zu definieren, fehlen vollständig. Darüber hinaus reflektieren politische Entscheidungen häufig nicht die Bedarfe und Interessen von Kindern und Jugendlichen. 

Mittlerweile lässt sich im europäischen Vergleich ein Bildungsrückstand feststellen, für dessen Bekämpfung sowohl Fachkräfte als auch Konzepte fehlen. Chancen von Kindern und Jugendlichen sind stark an ihre Herkunft geknüpft. Nahezu jedes fünfte Kind ist von Armut bedroht.[1] Die aktuell gestiegenen Kosten kommen erschwerend hinzu. Ein Faktor, der Chancengerechtigkeit zuwiderläuft und Folgen für die Gesellschaft als Gesamtheit haben wird.

Initiative Familien fordert die Politik auf, die Debatte weg von Einzelmaßnahmen, hin zu qualitativ hochwertiger Betreuung, Förderung und Bildung zu lenken. Eine vollumfängliche Normalität für Kinder und Jugendliche muss der Mittelpunkt jeder politischen Debatte und die Richtschnur für weiteres politisches Handeln sein. Aufholen bedeutet in diesem Kontext ebenso die Gesundheitsversorgung für Kinder und Jugendliche zu verbessern und Familien zu entlasten.

Kinder brauchen jetzt Ressourcen, um entstandene Schäden ausgleichen und Perspektiven entwickeln zu können. Dies kann nach Ansicht von Initiative Familien nur gelingen, wenn ein sog. “Kindervorbehalt” installiert wird, um die Belange von Kindern und Jugendlichen bei allen Gesetzesvorhaben und politischen Entscheidungen vorrangig zu berücksichtigen – analog zu Artikel 3 der UN-Kinderrechtskonvention. 

Das Positionspapier gliedert sich in drei Bereiche und befasst sich mit den Schwerpunkten Bildung, Psyche und Maßnahmen. Es skizziert, welche Defizite entstanden sind und welche Schwerpunkte für Kinder und Jugendliche künftig gesetzt werden müssen.


[1] https://de.statista.com/statistik/daten/studie/785520/umfrage/armutsgefaehrdungsquote-von-kindern-in-deutschland/

Bildung

„Chancengleichheit ist ein Schlüsselfaktor für eine starke und demokratische Gesellschaft, die den Zusammenhalt fördert. Anders als die Politik, die sich mit den Folgen befasst, kann Bildung bei Chancenungleichheit an der Wurzel ansetzen. Mehr Investitionen in bessere und relevantere Bildung sind für den langfristigen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Wohlstand der Länder von entscheidender Bedeutung.“[1] (OECD; September 2021)


[1] https://www.oecd.org/berlin/presse/kampf-gegen-chancenungleichheit-erfordert-mehr-investitionen-in-bildung.htm

Bildung muss als ganzheitlicher Ansatz gesehen werden. Mehr denn je findet die Lebensrealität im Raum KiTa und Schule statt und umfasst Felder wie Persönlichkeitsentwicklung, Teilhabe, Demokratieentwicklung oder psychosoziale Entwicklung. Wissensvermittlung allein wird dem Bildungsauftrag, wie wir ihn heute verstehen, nicht mehr gerecht. Vielmehr brauchen wir Settings im Bereich Bildung, die KiTa und Schule als sozialen Lebensraum begreifen, das Umfeld der Kinder und Jugendlichen mit einbeziehen und sie bestmöglich unterstützen. 

Frühkindliche Bildung und Betreuung

Bildung beginnt in der KiTa: Was wir als Gesellschaft dort versäumen, lässt sich später nur schwer aufholen. Dies gilt insbesondere in Bezug auf chancengerechte Entwicklungsperspektiven unabhängig von Herkunft und finanziellen Ressourcen. Nicht umsonst erzielt eine gute frühkindliche Förderung und Bildung eine Rendite von rd. 13% für die Volkswirtschaft insgesamt[1], die zu keinem späteren Zeitpunkt mehr erreicht werden kann. 

An Fachkräfte in diesem Bereich werden hohe Anforderungen gestellt, da neben der pädagogischen Arbeit weitere Pflichten hinzukommen, die im Zuge des vorherrschenden Personalmangels nicht angemessen erfüllt werden können. Die Folge ist ein Mangel an Platzangeboten und Qualität. Der Bedarf an Personal im Bereich KiTa wird sich bis 2025 auf ca. 100.000 Personen[2] belaufen, die dem System fehlen. Dabei ist der Personalbedarf im Offenen Ganztag, der 2026 mit einem Rechtsanspruch für Eltern unterfüttert wird, nicht berücksichtigt. Noch immer gelingt es nicht, den Rechtsanspruch ab dem vollendeten ersten Lebensjahr bedarfsdeckend auszugestalten. Geschaffen, um Kinder möglichst früh zu fördern und Vereinbarkeiten für Eltern zu verbessern, werden sowohl Kinder als auch Eltern mit einem brüchigen System konfrontiert, das dem Förderauftrag an vielen Stellen nicht gerecht werden kann. Ein für die Gesellschaft unverzichtbares System, für das nach Ansicht der Initiative nicht mit ausreichend Engagement Lösungen gefunden und erprobt werden. Folgen sind der weitere Verlust an Vereinbarkeit für Familien, schlechtere Startchancen für Kinder, eine weiter auseinander driftende Bildungsschere, nicht gelöste Integrationsbedarfe, gescheiterte Inklusion sowie ein gesamter volkswirtschaftlicher Schaden, der eklatant für die Zukunft der Generationen sein wird. 

Für Eltern stellt sich zunehmend die Frage der Planbarkeit. Aufgrund von Betreuungskürzungen hat sich die Situation im Hinblick auf Vereinbarkeit von Familie und Beruf so entwickelt, dass eigene Verpflichtungen oftmals nicht mehr erfüllt werden können. Arbeitszeiten, die im Zusammenhang mit der Pandemie gekürzt wurden, werden teilweise nicht mehr aufgestockt, da sich die Personalknappheit verstetigt hat. Eltern entfallen somit ihrerseits als Fachkräfte in anderen Bereichen. Diese Lücke kann nicht gefüllt werden. Ein Faktor, den Familien mit mehr Ressourcen besser kompensieren können, der strukturelle Probleme aber erneut ins Private verschiebt. 

Darüber hinaus bleiben jedoch Kosten für Betreuung und Mahlzeiten weiterhin trotz der Betreuungskürzungen bestehen. Für Familien mit wenig finanziellen Mitteln bedeutet dies konkret eine Rechenaufgabe, inwiefern sich eine Aufstockung der Erwerbsarbeit im Vergleich zu gestiegenen Betreuungskosten lohnt. Ein Faktor, der im weiteren Verlauf häufig Mütter in die Altersarmut führt. Auch das reformierte “Gute-KiTa-Gesetz” – Zweites Gesetz zur Weiterentwicklung der Qualität und zur Teilhabe in der Kindertagesbetreuung (KiTa-Qualitätsgesetz) – bietet hierzu keine Lösungsansätze.[3] Obwohl wichtige Ansatzpunkte aufgegriffen werden, um die Qualität in KiTas zu verbessern, fehlen vollständig die Mittel, um Familien zu entlasten, die gerade in der momentanen Situation von den Folgen der Inflation betroffen sind.

Bildung an Schulen

Oftmals gelingt die Begleitung im Übergang von KiTa zur Schule aufgrund von Personalknappheit nicht. Bereits hier muss jedoch klar sein, dass gezielte Förderung multiprofessionell angegangen werden muss. Erfolgreiches Lernen gelingt – insbesondere in Grundschulen – nur über den erfolgreichen Beziehungsaufbau. Hierfür braucht es ausreichend Ressourcen und kleinere Klassen, um einen Pardiigmenwechsel hin zu positiver Kommunikation und damit zu positiven Erlebnissen an Schulen mit ganzheitlicher Förderung zu ermöglichen. 

Ein Aspekt, der gerade in den letzten Jahren deutlich vernachlässigt wurde, ist die Partizipation der Kinder. Kinder haben häufig gelernt, Regeln zu befolgen, ohne ihr durch die UN-Kinderrechtskonvention zugesichertes Recht auf Beteiligung[4] zu erfahren (vgl. Art. 12 UN-Kinderrechtskonvention). Demokratische Beteiligung sollte früh beginnen und ist eines der Kernelemente in der Entwicklung von mündigen Bürgern. Hier gilt es, Kinder und Jugendliche gezielt zu beteiligen und ihnen möglichst früh Handlungskompetenzen zu sichern. 

Gerade die vergangenen Corona-Jahre haben den Druck, der auf Kindern und Jugendlichen lastet, zusätzlich erhöht. Aufholen ist ein Stichwort, das in diesem Kontext häufig fällt und mit einer Erwartungshaltung an junge Menschen verknüpft ist. Vergessen wird oftmals, dass nicht nur Lernbedarfe entstanden sind. Ebenso wichtig sind die vielfältigen persönlichen und sozialen Entwicklungsaufgaben, die teilweise nicht oder nicht ausreichend erfüllt werden konnten. 

Aufgrund der vergangenen, lang anhaltenden Pandemie-Maßnahmen hat sich gezeigt, dass die Lesekompetenz der Viertklässler:innen deutlich zurückgegangen ist. Das Institut für Qualitätsentwicklung im Bildungswesen beziffert im IQB-Bildungstrend 2021 einen Rückstand von einem dreiviertel Schuljahr im Vergleich zu 2016.[5]

Bildungsarmut hat nicht nur Auswirkungen auf die persönlichen und gesamtwirtschaftlichen Entwicklungschancen, sondern auch auf die berufliche Perspektive. “Darüber hinaus wirken sich fehlende Bildungsabschlüsse und Qualifikationen auch negativ auf den sozialen Status, die Lebenszufriedenheit und den Gesundheitszustand der Betroffenen aus und erschweren ihre Integration in die Gesellschaft.”[6]

Um den wachsenden Anforderungen gerecht zu werden, braucht es Investitionen in den Bereich Bildung, um den Investitionsstau an Schulen, der sich mittlerweile  auf ca. 42,8 Mrd. Euro beläuft, zu begegnen.[7] Der zu erwartende Lehrkräftemangel wird bis 2030 zwischen 14.000 (konservativ geschätzt) und 81.000 Personen beziffert. Eine Krise, deren politischer Stellenwert bereits anhand der Zahlen deutlich erkennbar ist. Es ist offensichtlich, dass die Pandemie-bedingten Ausgaben den Investitionsstau im Bildungs- und Lebensraum Schule zusätzlich verschärft haben.

Das Bildungswesen muss als kritische Infrastruktur gesehen und die Resilienz des Systems erhöht werden. “Funktionseinschränkungen im Bildungswesen verletzen vielmehr fundamental bedeutsame Rechte von Kindern und Jugendlichen. Sie verschärfen Bildungsungerechtigkeiten, gefährden Bildungsabschlüsse und verursachen erhebliche negative psychische, soziale sowie nicht zuletzt ökonomische bzw. volkswirtschaftliche Effekte.”[8]

Initiative Familien fordert eine Priorisierung von Investitionen im Bildungsbereich, um Kindern und Jugendlichen ein gutes und chancengerechtes Umfeld zu ermöglichen. 

Gut ausgestattete und sanierte Schulen müssen zum Standard und Kindern eine gleichberechtigte Teilhabe unabhängig von ihrer Herkunft  ermöglicht werden. Hierzu zählen neben einer guten digitalen Ausstattung und qualifiziertem Personal auch eine gesunde Verpflegung, motorische Angebote sowie Raum für AGs und Freizeitaktivitäten.

Nach zwei Jahren mit Einschränkungen, die für manche Kinder einen großen Teil ihres bisherigen Lebens ausmachten, müssen wir zur Normalität zurückfinden. Viele Kinder und Jugendliche benötigen dabei Unterstützung. Daher gilt es nun, die Schulsozialarbeit zu stärken und von der Regierung aufgesetzte Programme wie beispielsweise „Rückenwind“ oder „Stärke“ weiter auszubauen. 

Des Weiteren sehen sich Familien mit einem Kostenanstieg konfrontiert, der die Teilhabe von Kindern und Jugendlichen zunehmend gefährdet. Eltern können Freizeitangebote, Beiträge für Betreuungs- und Bildungseinrichtungen oder Essensgelder teilweise nicht mehr finanzieren. Ein Faktor, der Chancengerechtigkeit gefährdet und Kinder aus Familien mit geringem Einkommen in ihren Möglichkeiten beschränkt. Initiative Familien fordert die Politik auf, Kinder als eigenständige Persönlichkeiten zu betrachten und unabhängig von ihren Eltern zu fördern. Ein Sozialausgleich kann über Steuern und Abgaben erfolgen.


[1] https://www.kindergartenpaedagogik.de/fachartikel/kita-politik/kita-finanzierung-rahmenbedingungen/1598/

[2] https://www.fachkraeftebarometer.de/fileadmin/Redaktion/Publikation_FKB2017/Publikation_FKB2021/WiFF_FKB_2021_web.pdf

[3] https://www.bmfsfj.de/bmfsfj/service/gesetze/zweites-gesetz-zur-weiterentwicklung-der-qualitaet-und-zur-teilhabe-in-der-kindertagesbetreuung-kita-qualitaetsgesetz–201142

[4] https://www.unicef.de/informieren/ueber-uns/fuer-kinderrechte/un-kinderrechtskonvention

[5] https://www.iqb.hu-berlin.de/bt/BT2021/Bericht/; IQB-Bildungstrend 2021, Kurzbericht 

[6] https://www.iwkoeln.de/fileadmin/user_upload/Studien/Gutachten/PDF/2021/Presse-Statement_Bildungsmonitor_2021.pdf, S. 59; INSM-Bildungsmonitor 2021; Anger, Christina et al.

[7] https://www.kfw.de/Über-die-KfW/Newsroom/Aktuelles/Pressemitteilungen-Details_541568.html

[8] Vulnerabilität und Kritikalität des Bildungswesens in Deutschland (bund.de); S. 250; Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe

Initiative Familien fordert konkret:
  • kostenfreie Vollverpflegung in KiTas und Schulen nach DGE-Standard 
  • beitragsfreie KiTa- und OGS-/Hortplätze
  • Entwicklung von Konzepten zur Fachkräftegewinnung, Erprobung kreativer Ansätze sowie Ermöglichen von Quereinstieg 
  • Entlastung von Lehr- und Fachkräften in Hinblick auf Organisations- und Dokumentationspflichten
  • gezielter Einsatz von Schulsozialarbeit und Förderung psychologischer Angebote
  • Weiterfinanzierung der Sprachkitas sowie Ausbau der Integrationsangebote in KiTa und Schule 
  • Jährliche Schuleingangsuntersuchungen in gewohntem Umfang 
  • Gruppen-/Klassenübergreifende AG- und Freizeitangebote sowie regelmäßige Ausflüge und Klassenfahrten 
  • Ausbau einer kinderfreundlichen und kostengünstigen Verkehrsinfrastruktur  
  • Nachhaltige Entwicklung der Schulen
  • beheizte Klassen- und Gruppenräume 
  • offene und beheizte Schwimmbäder sowie regelmäßiger Schwimmunterricht

Zur psychischen Gesundheit der Kinder und Jugendlichen

„Gesundheit ist ein Zustand des vollständigen körperlichen, geistigen und sozialen Wohlergehens und nicht nur das Fehlen von Krankheit oder Gebrechen.“[1]


[1]  Definition Gesundheit der WHO 

Während der Pandemie waren die Kinder und Jugendlichen emotional stark belastet. Ihr Alltag war geprägt von Verlusterfahrungen: über einen im europäischen Vergleich langen Zeitraum erlebten sie nicht nur den Verlust ihres Schulalltags mit den dazugehörigen Bildungs- und Kontaktangeboten und den planmäßig vorgesehenen Lerninhalten, sondern mussten ebenso den Verlust ihrer außerschulischen Aktivitäten und den damit verbundenen sozialen Kontakten zu Gleichaltrigen hinnehmen – verwandtschaftliche Kontakte eingeschlossen. Für nicht wenige Kinder stellte auch der Verlust des Vertrauens in die eigene körperliche Unversehrtheit eine psychische Belastung dar. Die Kinder im KiTa-Alter hatten zwar nicht mit den Belastungen und Einschränkungen des Homeschoolings zu kämpfen, jedoch erlebten auch sie die völlige Separierung von Elternhaus und Kindertagesstätte.

Viele mit positiven Erfahrungen verbundene Aktivitäten im Leben von Heranwachsenden – die Möglichkeit zur Ausübung eines Hobbys, Veranstaltungen, Partys – fielen plötzlich ersatzlos weg. Stattdessen erlebten sie Unsicherheiten:  Wann kann das eigene Hobby wieder ausgeübt, wann der eigene Geburtstag mit Freunden gefeiert, wann wieder ein “normaler Alltag” gelebt werden. 

Kinder und Jugendliche reagierten sehr unterschiedlich auf die Belastungen der Lockdowns und die Unterbrechungen ihres Alltags. Sie zeigten psychische Auffälligkeiten unterschiedlicher Art[1]. Manche Kinder blieben unauffällig, andere hingegen entwickelten Symptome, die die Kriterien einer psychischen Störung erfüllten. Nachweislich stiegen die Prävalenzen im Bereich von Depressionen[2], Angst-[3], Ess- und Zwangsstörungen[4]an. 

Ebenso erhöhte sich die Anzahl der Kinder und Jugendlichen, die exzessiv Medien konsumierten[5][6][7]. Auch die Rate an Suizidversuchen[8] stieg an. 

Bereits im Oktober 2020 beschrieb die Monitoringstelle der UN-Kinderrechtskonvention beim Deutschen Institut für Menschenrechte die Situation der Kinder wie folgt: „Die Verwirklichung der Kinderrechte in Deutschland hat mit Beginn der Corona-Pandemie erhebliche Rückschritte erlitten. [Die]… zeigten sich insbesondere in der anfänglichen Nichtbeachtung der Ansichten von Kindern und Jugendlichen durch Bund, Länder und Kommunen.”[9]

Bei keiner anderen Altersgruppe stand das Ausmaß der Einschränkungen im Vergleich zu deren Nutzen in einem größeren Missverhältnis. Die Fokussierung zahlreicher pandemischer Maßnahmen auf Kinder und Jugendliche durch die politischen Entscheidungsträger führte dazu, dass Kinder und Jugendliche nicht mehr selbstbestimmt auf ein Ziel hinarbeiten oder sich auf ein Ereignis freuen konnten. Alters- und entwicklungsgerechte Entscheidungskompetenzen konnten so weder erworben noch gelebt werden. Gleichzeitig waren die Möglichkeiten der Stressregulierung deutlich eingeschränkt.[10]

Die Bandbreite psychischer Auffälligkeiten stellt ein Kontinuum dar, beginnend mit kleinen emotionalen und/oder Verhaltensproblemen bis hin zu klinischen Diagnosen im Bereich psychischer Störungen. Kindern und Jugendlichen, die die zahlreichen Verlusterfahrungen weniger “erfolgreich” bewältigen konnten, mangelte es an individueller Resilienz sowie an familiären, psychosozialen und/oder materiellen Ressourcen. Pathogenetisch kann die mangelnde Bewältigung von Verlusten zu Frustrationen und Aggressionen, im ungünstigsten Fall zu klinischen Depressionen führen. 

Auf die emotionale Begleiterscheinung von Einsamkeit reagierten jene Kinder und Jugendlichen mit ungünstigeren Ausgangsbedingungen zum Teil mit Zwangs- oder Essstörungen oder entwickelten eine Mediensucht als “selbsterfundene Beschäftigungstherapie”, um zumindest in einem Lebensbereich wieder subjektive Kontrolle zu erlangen. Eine Subgruppe von Heranwachsenden konnte auch nach Wiedereröffnung der Schulen wegen bereits zuvor bestehender oder im Lockdown entwickelter sozialer Ängste den regulären Schulbesuch nicht wieder aufnehmen.     

Als verheerend für die Betroffenen erwies sich in diesem Szenario der bereits vor der Pandemie herrschende Mangel an psychotherapeutischen Behandlungsplätzen für diese Altersgruppe.[11] Vor allen Dingen im ländlichen Bereich sind Wartelisten von 120 Patienten im ambulanten Bereich eher die Regel als die Ausnahme. Auch im stationären Behandlungssetting betragen die Wartezeiten zum Teil sechs Monate, so dass auch bei akuter psychischer Symptomatik nicht rechtzeitig im benötigten Umfang geholfen werden kann.   

Daraus geht zwangsläufig die Forderung nach dem Ausbau psychotherapeutischer Behandlungsplätze durch qualifizierte Therapeuten und Therapeutinnen, flächendeckende Angebote von Schulsozialarbeit sowie der Verzicht auf erneute Beschränkungen des schulischen und außerschulischen Alltags von Kindern und Jugendlichen hervor. 


[1]  https://www.uke.de/kliniken-institute/kliniken/kinder-und-jugendpsychiatrie-psychotherapie-und-psychosomatik/forschung/arbeitsgruppen/child-public-health/forschung/copsy-studie.html; COPSY-Studie; Ravens-Sieberer, Ulrike et al.   

[2] https://www.dak.de/dak/bundesthemen/pandemie-depressionen-und-essstoerungen-bei-jugendlichen-steigen-weiter-an-2558034.html#/  

[3] https://www.dak.de/dak/bundesthemen/pandemie-depressionen-und-essstoerungen-bei-jugendlichen-steigen-weiter-an-2558034.html#/  

[4]  https://econtent.hogrefe.com/doi/pdf/10.1024/1422-4917/a000858  

[5] https://www.unicef.de/_cae/resource/blob/234530/34bac3254c1077ce349f4a38b8debfcc/mediennutzung-und-schule-download-data.pdf  

[6] https://www.dak.de/dak/bundesthemen/mediensucht-steigt-in-corona-pandemie-stark-an-2508248.html#/  

[7] https://www.iwd.de/artikel/wenn-mediennutzung-zur-sucht-wird-533191/  

[8]  https://www.mdpi.com/2227-9067/9/3/363/htm; Impact of the First COVID Lockdown on Accident- and Injury-Admissions in Germany – A Mulicenter Study; Bruns, Nora et al.  

[9]  https://www.institut-fuer-menschenrechte.de/fileadmin/Redaktion/Publikationen/Weitere_Publikationen/Ergaenzung_zum_Parallelbericht_der_Monitoring_Stelle_UN_KRK.pdf

[10]https://www.rki.de/DE/Content/Gesundheitsmonitoring/Gesundheitsberichterstattung/GBEDownloadsJ/Focus/JoHM_04_2020_Psychische_Auswirkungen_COVID-19.pdf?__blob=publicationFile  

[11]  https://link.springer.com/article/10.1007/s00278-022-00604-y; Einfluss der COVID-19-Pandemie auf die ambulante psychotherapeutische Versorgung von Kindern und Jugendlichen; Plötner, Maria et al.

Initiative Familien fordert konkret:
  • Vollumfängliche Normalität für Kinder und Jugendliche mit allen Freizeit- und Sportmöglichkeiten, unabhängig von den finanziellen Möglichkeiten der Eltern
  • Achtung und Stärkung demokratischer Grundrechte von Kindern, d.h. Partizipation, altersangemessene Selbstbestimmung, Recht auf Bildung und Entfaltung ihrer Persönlichkeit
  • die vorrangige Berücksichtigung der Belange und Interessen von Kindern und Jugendlichen 
  • Stärkung und Ermöglichung positiv besetzter Erlebnisse, insbesondere an außerschulischen Lernorte, (verbindliche Klassenfahrten, Wandertage, Feste usw.)
  • Stärkung der Partizipation von Kindern und ihrer Selbstwirksamkeit
  • Erhöhung der Kassensitze für Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeut:innen und Ausbau von stationären Behandlungsmöglichkeiten

Gesundheitspolitische Maßnahmen

“Statt politisch motivierter Maßnahmen von Symbolcharakter, die mit einem hohen finanziellen Aufwand bei begrenzt zur Verfügung stehenden Mitteln verknüpft sind, fordern wir, diese Gelder an Stellen einzusetzen, wo wirklich Bedarf besteht: nämlich dort, wo die Pandemiepolitik bei Kindern und Jugendlichen bereits massive Schäden verursacht hat.”[1]


[1] https://www.kinderaerztliche-praxis.de/a/offener-brief-update-kinder-in-der-warteschleife-ende-offen-2428438

Bei allen Maßnahmen zur Bekämpfung von Infektionskrankheiten ist der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu beachten, d. h. die Maßnahmen müssen geeignet, erforderlich und angemessen sein.[1]

Kinder und Jugendliche sind keine vulnerable Personengruppe in Bezug auf diese Infektion. Selbst ansteigende Infektionszahlen treffen hier auf eine zu 92% immunisierte Altersgruppe[2] (Stand: Mai 2022, noch vor der großen BA.5-Sommerwelle), deren Immunität zudem noch um ein Vielfaches robuster ist als die der erwachsenen Bevölkerung.[3]

Gleichzeitig zeigen die vorliegenden Daten, dass in der Vergangenheit die Fokussierung zahlreicher pandemischer Maßnahmen auf Kinder und Jugendliche (anlasslose Routine-Testungen[4], Maskenpflicht im Unterricht[5], Einschränkung von Sport- und Freizeitangeboten) deren überwiegend natürliche Immunisierung nicht verhindern konnte, gleichzeitig aber zahlreiche Kollateralschäden hervorrief[6], deren langfristige Konsequenzen für diese Altersgruppe zum gegenwärtigen Zeitpunkt noch nicht absehbar sind bzw. nur eingeschränkt beurteilt werden können.[7]

Da diese Altersgruppe darüber hinaus nur ein sehr geringes Risiko für einen schweren Krankheitsverlauf trägt, sind anlasslose Routinetestungen und eine Maskenpflicht in Schulen ohne Indikation abzulehnen. Weder sind diese Maßnahmen erforderlich, noch sind sie verhältnismäßig und – was z. B. die Maskenpflicht bei jüngeren Kindern betrifft – auch nicht geeignet, da diese Masken weder richtig tragen (können), noch es geeignete FFP2-Masken für diese Gruppe gibt. 

Neue restriktive Schul- oder Kita-Regeln dürfen nicht mit Fremdschutz gerechtfertigt werden.[8] Ebenso lehnt Initiative Familien Maßnahmen, wie Wechsel- oder Distanzunterricht, die laut S3-Richtlinie aufgrund von Personalausfällen im Bildungssystem[9] vorgeschlagen werden, ab. Da die Ausfälle aufgrund des vorherrschenden Personalmangels Alltag sind, gilt es hier zugunsten stabiler Rahmenbedingungen schnellstmöglich an Konzepten zur Fachkräftegewinnung zu arbeiten. An dieser Stelle sei auch auf die skandinavischen Länder sowie Großbritannien und die Schweiz hingewiesen, die auf Grundlage der von ihnen zuverlässig erhobenen Daten auf pandemische Maßnahmen in Bildungseinrichtungen verzichten. 

Darüber hinaus muss dem Anstieg an Gewalt in Familien begegnet werden. Hier braucht es gezielte Angebote der Jugendhilfe, wie Familienhilfen sowie gut ausgestattete Jugendämter mit geschultem Fachpersonal. Niederschwellige Präventions- und Kontaktangebote müssen geschaffen und Kinderschutzkonzepte entwickelt werden, die von allen Beteiligten aufgesetzt, verbessert und gelebt werden. Mittlerweile wissen wir, dass die häusliche Gewalt in Familien in den vergangenen Jahren auch aufgrund der häuslich angespannten Situation gestiegen ist.[10] Erschwerend hinzu kam, dass viele Besuche durch Fachkräfte in dieser Zeit nicht stattfinden konnten. Auch hier gilt es dem Fachkräftemangel und hohen Arbeitsbelastungen entgegenzuwirken und Menschen im System zu halten. 


[1] Von Steinau-Steinrück, Sandra, Die staatliche Verhütung und Bekämpfung von Infektionskrankheiten, 2013, S. 195. 

[2] Armann, J et al: SARS-CoV-2-Immunitätslücke bei Schülerinnen und Schülern und Lehrkräften im Sommer 2022, Dtsch Arztebl 2022; DOI: 10.3238/arztebl.m2022.0307

[3] Renk, H., Dulovic, A., Seidel, A. et al. Robust and durable serological response following pediatric SARS-CoV-2 infection. 

Nat Commun 13, 128 (2022). https://doi.org/10.1038/s41467-021-27595-9  

[4] https://www.bvkj.de/politik-und-presse/nachrichten/234-2022-03-14-stellungnahme-der-dgkj-mit-bvkj-und-dgpi-zum-gesetzentwurf-aenderung-des-infektionsschutzgesetzes; Stellungnahme der DGKJ (mit BVKJ und DGPI) zum Gesetzentwurf Änderung des Infektionsschutzgesetzes; Rodeck, Burkhard et al.

[5]  https://www.initiativefamilien.de/wp-content/uploads/2022/10/Positionspapier-zu-Masken.pdf; Positionspapier zu Masken bei Kindern und Jugendlichen; Knipp-Selke, Andrea 

[6] Ravens-Sieberer U et al: Quality of life and mental health in children and adolescents during the first year of the COVID-19 pandemic: results of a two-wave nationwide population-based study. Eur Child Adolesc Psychiatry. 2021 Oct 12:1–14. doi: 10.1007/s00787-021-01889-1. Epub ahead of print. PMID: 34636964; PMCID: PMC8506100.

[7]  Armann, J et al: SARS-CoV-2-Immunitätslücke bei Schülerinnen und Schülern und Lehrkräften im Sommer 2022, Dtsch Arztebl 2022; DOI: 10.3238/arztebl.m2022.0307

[8] Walger P et al.: „Pandemiemanagement – Strategiewechsel notwendig und überfällig“, in: „Monitor Versorgungsforschung“ (05/22), S. 80-85. doi: http://doi.org/10.24945/MVF.05.22.1866-0533.2450

[9] https://www.awmf.org/uploads/tx_szleitlinien/027-076k_Praevention_und_Kontrolle_SARS-CoV-2-Uebertragung_in_Schulen_2022-10.pdf; S. 5 

[10]https://www.rki.de/DE/Content/Gesundheitsmonitoring/Gesundheitsberichterstattung/GBEDownloadsJ/Focus/JoHM_04_2020_Psychische_Auswirkungen_COVID-19.pdf?__blob=publicationFile; Journal of Mental Health Monitoring; Auswirkungen der COVID-19-Pandemie und der Eindämmungs- maßnahmen auf die psychische Gesundheit von Kindern und Jugendlichen; Schlack, Robert et al.; S.24

Initiative Familien fordert konkret:
  • eine gesicherte Datengrundlage für gesundheitspolitische Entscheidungen
  • evidenzbasierte Maßnahmen, die sich auf vulnerable Gruppen konzentrieren
  • eine zielgruppengerechte Informationspolitik, die Eigenverantwortung fördert
  • eine Datenerhebung, die sich auf Sentinel Praxen und Kliniken konzentriert und Bildungseinrichtungen außen vor lässt
  • uneingeschränkte Teilhabe für Kinder und Jugendliche
  • eine Verbesserung der Gesundheitsvorsorge und -versorgung für Kinder und Jugendliche
  • Programme zur Gewaltprävention mit allen Beteiligten sowie niederschwellige Beratungsangebote 

Fazit

Strukturelle Probleme in der Sozial-, Bildungs- und Gesundheitspolitik haben sich in den vergangenen Jahren deutlich verschärft. Kinder und Familien waren und sind die Verlierer der Krise. Viele Entscheidungen wurden fremdnützig, ohne Partizipation von Kindern, Jugendlichen und Familien und mit deutlichen Auswirkungen für ihre Gesundheit und Entwicklung getroffen. Auch jetzt hat sich die Situation kaum entspannt. Mit Blick auf den Krieg in der Ukraine, die gesellschaftlichen Auswirkungen durch die Energiekrise, gestiegene Lebenshaltungskosten und ein brüchiges Bildungssystem, verlagern sich strukturelle, gesellschaftliche Probleme mehr und mehr ins Private. 

Für aktuelle Entscheidungen bedeutet dies nun dringend, die Bedarfe und Interessen von Kindern, Jugendlichen und Familien in den Blick zu nehmen. Dies kann nur gelingen, wenn interdisziplinär Herausforderungen analysiert, bewertet und daraus Handlungsfelder abgeleitet werden. 

Als ersten Schritt fordert Initiative Familien, wie eingangs erwähnt, einen Kindervorbehalt, der bei allen Gesetzesvorhaben und politischen Entscheidungen Anwendung finden muss. Analog zum Klimavorbehalt, der bereits in einigen Bundesländern greift, soll auf Bundes- und Länderebene ein Verfahren installiert werden, in dem Fachpolitiker und -politikerinnen gemeinsam mit Experten und Expertinnen unterschiedlicher Disziplinen regelhaft Gesetzesvorschläge auf Bedarfe und Auswirkungen für Kinder und Jugendliche prüfen. Nach Ansicht der Initiative sollte es einen Konsens aller Bundesländer geben, dass kinder- und familienfreundliche Gesetzesbeschlüsse die Grundlage für eine respektvolle Haltung gegenüber dieser Generation sind. Dies sollte nach Einschätzung des Vereins durch einen Kindergipfel begleitet werden.

Für die Zukunft muss es darüber hinaus einen politischen Konsens geben, dass Kinder und Jugendliche nie wieder in diesem Ausmaß zur Krisenbekämpfung herangezogen werden, um gesamtgesellschaftliche Aufgaben zu erfüllen. Dies gilt in besonderem Maße dann, wenn diese Maßnahmen fremdnützig sind. 

Eine Gesellschaft, die die Rechte und Bedürfnisse von Kindern, Jugendlichen und Familien nicht ernst nimmt, beraubt sich einer der wichtigsten Zukunftsperspektiven für unsere Demokratie. 

Hier geht es zum PDF des Positionspapiers.