Auch wenn sich Bund und Länder auf erste Teilöffnungen von Schulen verständigt haben: Noch lange ist nicht absehbar, wann alle Kinder wieder an die Schulen zurück dürfen. Zahlreiche Eltern wollen jetzt die Verhältnismäßigkeit von Schulschließungen gerichtlich überprüfen lassen. Wir haben einige von ihnen, die sich an uns gewandt haben, für Euch befragt.

Wir haben sie eigentlich gebeten, kurz zu antworten. Aber wie ihr Euch vorstellen könnt, stecken ganz persönliche Geschichten und auch gründliche Abwägungen hinter jedem einzelnen Antrag: Also bringt etwas Geduld mit beim Lesen. Es lohnt sich: Versprochen!

Hinweis: Die Namen unserer Interviewpartner:innen sind uns bekannt. Sie möchten allerdings zum Schutz ihrer Kinder anonym bleiben.


Ein Vater einer 12-jährigen Tochter aus Berlin

Was fällt deiner Tochter besonders schwer derzeit?

Meiner Tochter fallen so viele Dinge schwer, dass ich keinen anderen Ausweg sehe, als ein Gericht damit zu befassen. Sie leidet sehr unter dem Verlust ihrer Freunde. Ihr fällt es sehr schwer, einen Rhythmus in ihrem Tag zu finden. Sie hat kaum Bewegung, weil alles weggefallen ist: Der Schulweg, das Toben auf dem Schulhof, der Sportunterricht, das Tanzen in der Tanzschule, das nachmittägliche Spielen und Herumstromern mit Gleichaltrigen. Deshalb ist sie oft abgeschlagen, gereizt, erlebt Nervenzusammenbrüche. Sie zeigt dann aber auch wieder eine innere Leere, eine Lust- und Antriebslosigkeit, die besorgniserregend ist. Sie hat schon mehrmals gesagt, ihr Leben sei ‘langweilig’ oder ‘sinnlos’. Ein 12-jähriges Mädchen! 

Dagegen nehmen sich die schulischen Defizite im Distanzunterricht schon fast harmlos aus. Aber es ist klar, dass für Schüler die Fächer, in denen sie keine besondere Begabung haben, hinten runter fallen. Da ist es z.B. so, dass sie fast gar nicht mehr selbständig arbeitet. Videounterricht gibt es aber auch nur sporadisch. Die Kinder müssen arbeiten wie Studenten, was natürlich nicht funktioniert in dem Alter.

Warum lässt Du die Schulschließung gerichtlich prüfen?

Weil ich mich schon seit längerem für Schulöffnungen einsetze und nicht sehe, dass wir unserem Ziel näher gekommen wären: Dass Schule in Präsenz als höchste Priorität und durch nichts zu ersetzender Lebensraum unserer Kinder durch die Politik akzeptiert wird. Wir haben offene Briefe und Pressemitteilungen geschrieben, Demos organisiert, und waren in Social Media aktiv. Und dennoch ist für meine Kinder an weiterführenden Schulen keine Perspektive da, ob und wann sie in absehbarer Zeit wieder ein normales Leben mit Unterricht führen können. Auch gerade Sport, Musik, Kunst fehlen, was sich per Distanzunterricht nicht vermitteln lässt. Aber vor allem auch ein Leben mit ihren Freunden und Gleichaltrigen, mit einer Struktur, die ihrem Leben einen Sinn gibt.

Und da ist der Kern meines Motivs: Das Leben meiner Kinder wurde „auf Pause“ gestellt. Ein englischer Regierungsberater hat es auf den Punkt gebracht: „When we close schools we close their lives.“

Und das, obwohl wir wissen, dass sich die verschiedenen Entwicklungsphasen im Kindes- und Jugendalter nicht nachholen lassen. Zeitfenster schließen sich, sie können ihre Pubertät gar nicht ausleben. Gravierende Folgen für die Persönlichkeitsentwicklung meiner Kinder sind schon jetzt programmiert.

Bei der gerichtlichen Prüfung geht es zwar zunächst um das Berliner Schulgesetz, letztlich aber um das Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit nach Art. 2 (1) Grundgesetz. Deswegen bin ich bereit, damit bis zum Bundesverfassungsgericht zu gehen.

Ich bin nämlich der festen Überzeugung, dass es sich hierbei nicht um ein Problem allein meiner Tochter handelt, sondern eine ganze Generation unverhältnismäßig hart belastet wird.

Was wäre das bestmögliche Ergebnis für Euch?

Zunächst mal geht es juristisch um Schulöffnung, also Unterricht in Präsenz natürlich mit den entsprechenden Schutzmaßnahmen. Unser eigentliches Ziel ist es aber, wieder zu einem differenzierten Umgang mit der Pandemie zu kommen, wie wir ihn in Berlin schon einmal hatten mit dem Berliner Corona-Stufenplan. Darin sind abgestufte Maßnahmen im Sinne einer Güterabwägung vorgesehen, die sich an dem Infektionsgeschehen im Stadtbezirk und der konkreten Schule orientieren. Es sollten also nicht nur politisch festgesetzte berlinweite Inzidenzen wie 50 oder 35 betrachtet werden, sondern auch andere Parameter wie Auslastung der Intensivbetten oder der R-Wert. Das Schulamt mit dem Gesundheitsamt und der Schulleitung soll wieder entscheiden, ob einzelne Lehrkräfte oder Schüler:innen in Quarantäne müssen, oder ob es in der höchsten Stufe “rot” z.B. an weiterführenden Schulen das Wechselmodell gibt. Diese Stufe “rot” auszurufen war aber auch bei wesentlich höheren Inzidenzen im letzten Herbst in Berlin kaum nötig. Wenn es Infektionen an Berliner Schulen gab, waren sie eher vereinzelt, und konnten immer sehr schnell unter Kontrolle gebracht werden.


Mutter von zwei Kindern im Alter von 4 und 8 Jahren

Was fällt deinen Kindern besonders schwer derzeit?

Meine Kinder sind verwirrt. Mama ist zu Hause, aber Mama arbeitet und kann nicht einfach mit ihnen spielen. Außerdem ist Mama auch die Lehrerin. Dies ist nicht die Rolle, die sie von ihren Eltern erwarten. Also bin ich hier, bei Zoom-Anrufen, während ich versuche, meinen Sohn zu unterrichten, der neben mir sitzt.

Um ehrlich zu sein, ist die Frage nicht, was für meinen Sohn schwierig ist. Die Frage sollte sein, was für meinen Sohn im Moment nicht schwierig ist.

Mein Sohn kann seine Freunde nicht sehen, er kann keinen Sport treiben, er kann nicht lernen, wie man Gitarre spielt. Mein Sohn ist in einer Wohnung untergebracht, die in ein Büro umgewandelt wurde, und wenn Mama und Papa Zeit für ihn haben, muss er etwas lesen oder lernen. Ich kann nicht verstehen, wie jemand dachte, dass dies eine gute Idee sei oder dass dies auf lange Sicht nachhaltig sein würde. Die Vernachlässigung des Wohlbefindens meines Kindes durch die Politik ist schockierend. Ich frage mich: Sind die Bedürfnisse der Kinder für Politiker weniger wert als die älterer Menschen? Wir können es als Gesellschaft besser machen.

Wie klappt bei Euch der Distanzunterricht?

Fernunterricht ist gleichbedeutend mit keinem Unterricht. Das ist die Realität in Berlin. Wir holen einmal pro Woche eine ganze Menge Papiere von der Schule ab, und dann müssen wir – die Eltern – alles tun. Die Anton App ist nutzlos. Wer würde einen 8-Jährigen stundenlang mit einem Computer allein lassen?

Warum lässt Du die Schulschließung gerichtlich prüfen?

Ich möchte nicht unbedingt, dass die Schließung der Schule vom Gericht überprüft wird. Ich würde es vorziehen, wenn dies nicht passieren müsste. Wir alle wissen, dass Kinder im Infektionsprozess keine große Rolle spielen. Politiker glauben, dass die Schließung von Schulen die Mobilität verringert. Die Kollateralschäden sind enorm. Das Schließen von Schulen ist einfach zu einfach. Dies ist nicht der klügste Weg, dies ist nicht der effektivste Weg. Dies ist nicht der ethischste Weg. Es ist nur der einfachste Weg.

Was würdest du dir stattdessen von der Politik wünschen?

Mut und Innovation. In der Politik geht es nicht nur um das Jetzt. Kein Politiker hätte jemals gedacht, dass er sich in einer solchen Situation befinden würde. Aber so ist es. Und es muss überlegt werden: Was ist die beste Vorgehensweise, die uns durch diesen Sturm bringt und uns dennoch die Fähigkeit zur Navigation lässt? Wie können wir unser Boot erhalten, um unsere Reise nach diesem Sturm fortzusetzen? Die Regierung und wir als Gesellschaft müssen in der Lage sein, Krisen zu bewältigen, ohne Kinder zu vernachlässigen. Und das erwarte ich von Politikern – dass sie Kinder genauso schützen, wie sie versuchen, alte Menschen zu schützen. Ansonsten priorisieren wir einige Bevölkerungsgruppen vor anderen.

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